„Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay
Kübra Gümüşay hat mich mit ihrer klugen Klarheit sehr beeindruckt, deshalb stelle ich Ihnen ihr Buch „Sprache und Sein“ vor. Es ist 2020 im Hanser Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 11 Euro. Eins schon vorneweg: Wenn Sie in diesem Jahr nur ein Buch lesen, dann, so mein Tipp, greifen Sie zu diesem.
Blick in „Sprache und Sein“
Klar ist: Wir müssen uns mit der Architektur der Sprache beschäftigen, die unsere Realität erfassen soll. Damit wir aussprechen können, was ist. Damit wir sein können, wer wir sind. Damit wir sehen können, wer die jeweils anderen sind.
Für mich ist dieses Zitat (Seite 21) die Quintessenz des Buches: wie Sprache Wahrnehmung prägt, wenn Wörter für Erfahrungen, Zustände, Dinge fehlen – oder vorhanden sind. Hilfreich fürs Begreifen dieser Aussage ist der Blick von außen, mit dem Gümüşay beginnt. Diesen Blick kann sie bieten, weil sie in mehreren Sprachen zu Hause ist.
In einigen Sprachen existieren Wörter, die es in anderen Sprachen nicht gibt. Der japanische Wortschatz etwa beinhaltet einen Begriff, der das Sonnenlicht beschreibt, das durch Blätter von Bäumen scheint: Komorebi. Gibt es ein poetischeres Beispiel dafür, das Sprache Wirklichkeit schafft?
Die sprachliche Lücke, so führt Gümüşay aus, kann politisch sein. Lassen Sie mich das etwas ausführen. Kennen Sie das Gefühl, wenn jemand einen Zustand anspricht, unter dem auch Sie leiden? Eine Erleichterung stellt sich ein, wenn Ihnen bewusst wird, dass sie mit diesem Zustand nicht allein sind. Was aber, wenn es kein Wort für den Zustand gibt, unter dem Sie leiden? Wenn einfach nicht darüber gesprochen wird, weil nicht darüber gesprochen werden kann? Dann kann diese Nichtsprache zu einem Instrument der Macht werden.
Letztlich geht es um alles
„Sprache und Sein“ bietet viele Aspekte, über die es sich nachzudenken lohnt: das Reduzieren von Menschen auf Kategorien, der Umgang der Rechten mit Sprache, das öffentliche Besetzen von gesellschaftlichen Themen …
Letztlich geht es der Autorin um alles, um ein gleichberechtigtes Sein aller Menschen (Seite 182):
Dieses Buch versteht sich als ein Beitrag auf der Suche nach einer Sprache, in der wir alle als Menschen in unserer Komplexität gleichberechtigt existieren können, als ein Nachdenken auf dem Weg dahin, unsere Ideale einer besseren Gesellschaft zu verwirklichen.
Fazit: Selten habe ich ein ebenso anregendes wie kluges Buch über Sprache gelesen. Auch die persönlichen Erlebnisse der Autorin mit ihrem scharfen Blick von außen machen „Sprache und Sein“ so wertvoll.
PS: Auf Twitter wurde ich darauf hingewiesen, dass die Autorin nicht unumstritten ist. Deswegen verlinke ich zusätzlich auf ihren Eintrag bei Wikipedia.
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