Drüben und drüben …
… von David Wagner und Jochen Schmidt ist mein Buch des Monats. Es ist im September 2014 im Rowohlt Verlag erschienen. Die beiden Schriftsteller beschreiben laut Untertitel „Zwei deutsche Kindheiten“.
Wagner, Jahrgang 71, wächst mit seinen Geschwistern in einem großen Haus im beschaulichen Andernach am Rhein auf. Seine Eltern sind wohlhabend, Bildungsbürgertum im besten Sinne, jedes Kind lernt ein Musikinstrument. Schmidts Eltern sind Diplom-Philologen, „geheimnisvoll“ findet das der kleine Jochen, und bekennende Christen. Schmidt, Jahrgang 70, wächst mit seinen Geschwistern in einer engen Wohnung in einem Neubaugebiet in Ostberlin auf.
„Drüben und drüben“ ist ein subjektives Buch, das den Zeitgeist der gespaltenen Republik jeweils aus der Sicht eines Jungen und (gegen Ende hin) eines jungen Mannes beschreibt. Welchen Blick man zuerst schweifen lässt, entscheidet man selbst, denn das Buch lässt sich drehen. In der Mitte kommt dann zusammen, was nun zusammengehört.
Erinnerungen via Stichworte
Als Gerüst des Buches dienen Stichworte wie „Kinderzimmer“, „Wohnzimmer“, „Schule“, „Bei anderen“, „Ferien“, „Niemandsland“ oder „9. November 1989“. Kapitelweise füllen Schmidt und Wagner diese Stichworte mit Leben und nehmen uns so mit auf eine Reise durch die beiden Deutschlands.
Bei Wagner klappt eine Kiste in meinem Kopf auf: Genau, die Colaflaschen hatten Papper mit Musikgruppen im Deckel, die man herauspulen konnte. Westdeutsche Radios brachten zur Ferienzeit Reiserufe: „Der Fahrer mit dem amtlichen Kennzeichen … möge sich bitte zu Hause melden.“ Ja, ich erinnere mich.
Schmidts Erinnerungen berühren mich indirekt, weil mein Vater kurz vor dem Mauerbau nach „drüben“ ging, seine Geschwister und Eltern blieben im Osten. Sehr viel später durfte er dann mit uns, seiner Familie, seine Eltern besuchen, meine Oma und meinen Opa. Deswegen kenne ich einzelne Erinnerungen Schmidts aus zweiter Hand.
Im Vergleich: prall versus blutleer
Schmidts Erinnerungen sind prall und lebendig, Wagners hinken ein wenig blutleer hinterher. Der jugendliche Tag im Osten beginnt damit, dass das Bett hochgeklappt wird – schon fühlt man die Enge der Plattenbauwohnung. Jochens Autofahrten werden von der „roten Kotzschüssel“ begleitet, die auf seinen Knien bereitsteht, hier ein Blick darauf: „‘Jochen ist ganz grün‘, sagte meine Schwester und studierte neugierig mein Gesicht.“ Später greift Schmidt die Kotzschüssel wieder auf:
„Ich fühlte mich zwar zum Kosmonauten berufen – schließlich fand ich die Vorstellung, nur noch Tubennahrung zu essen, durchaus reizvoll, ich mochte ja Tuben wie überhaupt alle Produkte, denen menschliches Ingenium ihre Natürlichkeit ausgetrieben hatte –, aber es gab ein großes Hindernis, ein noch größeres, als dass jeder Kosmonaut Russisch lernen musste: mein schwacher Magen.“ Er müsste, so sinniert er weiter, garantiert einen Fensterplatz im Raumschiff haben und zur Sicherheit seine Kotzschüssel mitnehmen dürfen.
Es sind diese kleinen Schleifen und der liebevolle Blick auf das Detail, die Schmidts Erinnerungen so liebens- und lesenswert machen. Er geht mehr in die Tiefe, scheint trotz der Enge und des Eingeschlossenseins der Offenere der beiden zu sein. Bei Wagners Erinnerungen, ebenfalls amüsant und informativ geschrieben, keine Frage, schrappt man an einer glatten Oberfläche entlang, unfähig, diese richtig zu greifen. Doch trotz dieser Schwäche mochte ich „Drüben und drüben“ und die Einblicke, die das Buch mir gegeben hat.
PS: Wagner kannte ich schon, demnächst werde ich etwas von Jochen Schmidt lesen – vielleicht hat jemand einen Tipp für mich?
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