„Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja
„Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja stelle ich Ihnen heute vor. Wer wie ich über den Titel stolpert, findet die Erklärung in dieser Passage:
Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie, vielleicht, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.
Vielleicht ist Esther ist in Kiew geblieben.
Babuschka war alt, sie konnte nicht mehr laufen. Der Rest der Familie, auch der Vater der Autorin, rettete sich im Sommer 1941 vor den deutschen Soldaten. Von Vielleicht Esther blieben ein Foto, ein Spruch und diese kurze Geschichte übrig. Diese Episode ist der Auslöser für die Familienrecherche, an der uns Katja Petrowskaja teilhaben lässt. Die Autorin macht sich auf die Reise und erforscht in sieben Kapiteln ihre Familiengeschichte. Sie dokumentiert für uns Begegnungen, lässt Erinnerungen lebendig werden und zeichnet ein Bild des 20. Jahrhunderts. Sie holt vergessene Verwandte zurück, erzählt deren Geschichte und hält nebenbei eine äußerst lebendige Geschichtsstunde ab – was auch an ihrem bilderreichen Schreibstil liegt:
Als ich in Kiew aufwuchs, war Polen, unser nächster Nachbar, auf Russisch Polscha, unsere Nachbarin, ein unerreichbares, schönes Ausland. Dort lebten anmutige Frauen, die Männer hatten Manieren, man glaubte dort an Gott, trotz oder dank des Kommunismus, vielleicht auch schon immer, und alle gingen in die himmelhoch gereckten gotischen Kirchen. In Polen gab es sogar Kaugummi zu kaufen.
Ab und an wünschte ich mir beim Lesen, jemand aus meiner Familie hätte eine solche Chronik verfasst und erschrak sofort über diesen Gedanken. Hatte doch diese Familie die grausame Wucht des 20. Jahrhunderts abbekommen. Dass man als Leser manchmal die Schwere des Themas vergisst, liegt an dem federleichten Schreibstil der Autorin. Definitiv mein Buch des Monats, mit großen Chancen, zum Buch des Jahres zu werden: „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja, Suhrkamp Verlag 2014.